Vor ein paar Wochen haben wir in meiner Meetup-Gruppe weitere Aspekte des Themas „Kultur und Wahrnehmung“ diskutiert und ich würde gerne den vorherigen Artikel („Wie prägt Kultur unsere Wahrnehmung der Welt?“) um einige Punkte ergänzen.

Es war bemerkenswert zu sehen, dass fast alle Anwesenden in verschiedenen Ländern gelebt haben oder in einem anderen als ihr Herkunftsland leben. Wir haben festgestellt: Wir alle mussten ähnliche Herausforderungen bewältigen. Ein zentrales Thema war der Spagat zwischen der eigenen kulturellen Identität und dem Einlassen auf eine neue Kultur.

Identifikation mit der eigenen Kultur und Identitätskrise

Zu welcher Kultur fühle ich mich zugehörig?

Die Frage nach der Zugehörigkeit wird besonders komplex, wenn wir in einem anderen Kulturkreis leben. Es ist natürlich, dass sich unsere Identität im Laufe des Lebens verändert, doch der Wechsel in eine andere Kultur kann diesen Prozess beschleunigen und manchmal zu einer Identitätskrise führen. Einige Teilnehmer*innen teilten die Sorge, ihre ursprüngliche Kultur zu verlieren. Doch können wir was wirklich? Unsere Herkunftskultur verlieren?

Vielleicht ist folgendes Gedankenspiel eine Antwort:

Stelle dir einmal vor, du bist ein Baum und wächst in einem bestimmten Land auf. Wenn du nun ausgepflanzt und an anderer Stelle eingepflanzt wirst, dann werden deine Wurzeln mitgenommen und nicht einfach abgeschnitten. Sie sind ein lebenswichtiger Teil von dir. Natürlich kannst du an dem neuen Ort neue Wurzeln wachsen lassen und wahrscheinlich veränderst du dich leicht durch die anderen Bedingungen am neuen Ort. Wächst eventuell ein wenig mehr Richtung Sonne oder deine Blüten erblühen in einem anderen Monat. Vollkommen gleich bleibst du aber mit aller Wahrscheinlichkeit nicht.

Kulturelle Flexibilität

Im Laufe der Diskussionsrunde stellten wir fest, dass wir uns in verschiedenen Situationen anders verhalten. Ich persönlich bin eher distanziert, wenn ich mit anderen Deutschen zusammen bin. Wenn ich auf andere Nationalitäten treffe und auf englisch spreche, bin ich offener, enthusiastischer und lebhafter. Auch verändert sich dann meine Kommunikation. Die eher herzbasierte Kommunikation, die ich tagtäglich in Kanada erfahren habe, führte dazu, dass ich in englischer Sprache andere Wörter benutze und emotionaler spreche als in der deutschen Sprache.

Doch es geht nicht nur um Sprache und Ausdruck. Wir stellten fest, dass wir in verschiedenen Situationen „unsere Farbe“ wechseln können – wie ein Chamäleon. Weil wir verstehen, in welchem Kontext, welche Facette unserer Persönlichkeit am besten zum Ausdruck kommt. Eine Teilnehmerin bezeichnete das als Superpower.

Interkulturelle Kompetenz als Superpower

Sie ermöglicht es uns, flexibel auf verschiedene kulturelle Umgebungen zu reagieren und dabei authentisch zu bleiben. Diese Fähigkeit bereichert nicht nur unser persönliches Leben, sondern ist auch in einer zunehmend globalisierten Welt von unschätzbarem Wert.

Globalisierung und kulturelle Vielfalt

Kultur ist nicht statisch, sondern verändert sich stetig. In Deutschland haben sich in den letzten Jahrzehnten die Werte signifikant gewandelt. Der Fokus hat sich von reinem „Schuften“ hin zu einer ausgewogenen Work-Life-Balance verschoben. Wir befinden uns in einer Übergangsphase, in der alte und neue Werte aufeinanderprallen und Reibungen verursachen. Studien zeigen, dass materielle Sicherheit als Wert an Bedeutung verloren hat, während soziale Toleranz und die Akzeptanz verschiedener Lebensmodelle wichtiger geworden sind.

Die Globalisierung hat durch Zuwanderung und Fluchtbewegungen zu einer Vermischung verschiedener Kulturen geführt. Verursacht die aktuelle Veränderung in den Werten in Deutschland bereits Reibungen, dann ist es kein Wunder, dass „hinzugezogene Werte“ noch mehr Reibung erzeugen.

Sieh es mal von der positiven Seite: Wir erhalten die Chance, neue Sichtweisen kennenzulernen und uns auf unterschiedliche Einstellungen und Mentalitäten einzulassen.

Integration und Inklusion

In Deutschland wird immer noch von Integrationskursen gesprochen – meiner Meinung nach sagt der Name genau das, worüber sich viele Menschen aufregen. Kleine Auffrischung der Begriffsdefinitionen von Integration und Inklusion? Bitte sehr:

Quelle

Bei der Integration bleibt eine bestimmte Personengruppe unter sich, wird aber in die Gesellschaft aufgenommen.

Bei der Inklusion geht es um die Vermischung der Personengruppen. Was dabei passiert: Menschen gehen aufeinander zu, gehen Kompromisse ein, lernen sich kennen, passen sich flexibel an die verschiedenen Begegnungen an und entwickeln gemeinsam neue Werte und Überzeugungen.

Das bedeutet immer noch nicht, dass der eigene kulturelle Hintergrund vollständig aufgegeben werden sollte. Zur Erinnerung: Ein Baum hat Wurzeln und ohne diesen konnte er nicht wachsen.

Fazit: Interkulturelle Kompetenz als Superpower

Die Globalisierung hat uns die einzigartige Möglichkeit gegeben, zwischen verschiedenen Kulturen zu wählen. Interkulturelle Kompetenz ist dabei zu einer Schlüsselfähigkeit geworden. Sie ermöglicht es uns, uns auf unterschiedliche Menschen, Traditionen und Werte einzustellen, ohne dabei unsere Authentizität zu verlieren. Diese Fähigkeit hilft uns, mit Veränderungen umzugehen, macht unser Denken ganzheitlicher und öffnet unseren Blick für alternative Lebensweisen.

Letztendlich geht es darum, voneinander zu lernen und die Vielfalt der Kulturen als Bereicherung zu sehen.