Über 20 Jahren habe ich in der pädagogischen Praxis gearbeitet und durfte in ganz unterschiedlichen Arbeitsfeldern tätig sein. Dabei hatte ich immer auch die gesellschaftlichen Themen und Zusammenhänge im Blick – und vor allem, wie sich Kindheit und Jugend in dieser Zeit verändert haben. Auch wenn ich mittlerweile nicht mehr direkt in pädagogischen Einrichtungen arbeite, bleibe ich durch meine freiberufliche Tätigkeit als Mentorin eng an den Themen der jungen Generation und nehme die Entwicklungen, insbesondere im digitalen Bereich, weiterhin sehr bewusst wahr.

In unserer heutigen, schnelllebigen Welt beobachte ich mit Sorge, wie viel Fantasie und Kreativität bei Kindern und Jugendlichen verloren zu gehen scheint. Überall begegnen ihnen visuelle Reize, die sich in rasanter Geschwindigkeit abwechseln. Bilder, Videos, digitale Spiele – sie überfluten unsere Sinne und lassen kaum noch Raum, selbst Bilder im Kopf entstehen zu lassen.

Fantasie braucht jedoch genau das: Zeit, Leere, Stille – all das, was heutzutage oft fehlt.

Kreativität – was verbindest du damit?

Vielleicht denkst du zuerst an Problemlösekompetenz – etwas, das im Alltag und im Berufsleben hilfreich ist. Aber Kreativität ist auch das Fundament für Vorstellungskraft, Empathie und Ausdruck. Sie beginnt mit der inneren Vorstellungskraft, mit Fantasie – und genau die wird durch dauerhafte Reizüberflutung regelrecht unterdrückt. Warum sollte ich mir ein Bild vorstellen, wenn ich es mit einem Klick erstellt bekomme?

Gerade digitale Spiele tragen zu diesem Wandel bei. Sie sind faszinierend, sie binden Aufmerksamkeit und fordern uns auf vielfältige Weise. Aber sie bringen auch eine neue Realität mit sich: Kinder verlieren zunehmend das Interesse an Büchern. Denn wie soll ein ruhiger Text auf Papier mit der rasanten, interaktiven Welt eines Spiels mithalten, in dem ich selbst die Hauptfigur bin?

Hier stellt sich mir eine zentrale Frage

Geht durch diese Entwicklung auch ein Stück Empathie verloren?

In Büchern erleben wir oft intensive emotionale Reisen. Wir fühlen mit den Charakteren, wachsen mit ihnen, begleiten sie durch Herausforderungen und Siege. Geschichten im Buch bieten die Chance, sich tief in andere Perspektiven hineinzuversetzen – etwas, das in Spielen mit Fokus auf Aktion und Belohnung oft zu kurz kommt. Wo bleibt der Moment, in dem wir innehalten, mitfühlen, reflektieren?

Ich sehe diesen Prozess kritisch, auch wenn ich mir bewusst bin, dass wir ihn nicht aufhalten, sondern höchstens gestalten können. Für mich lautet eine zentrale Frage:

Wie können wir Fantasie, Kreativität und das Interesse an Geschichten erhalten – trotz visueller und virtueller Überstimulation?

Was braucht es, um Kinder weiterhin für das Erzählen zu begeistern? Ich denke, es beginnt im Kleinen – in der Familie, im Alltag, in der Kita, in der Schule. Früher wurde vorgelesen, Geschichten wurden erfunden, gemeinsam ausgedacht, weitererzählt. Heute überlassen wir diese Momente oft digitalen Geräten. Ich verstehe, dass der Alltag fordernd ist – manchmal ist das Tablet die pragmatische Lösung. Doch Balance ist entscheidend.

Wer hat euch früher vorgelesen?

Wer hat euch eigene Geschichten erzählt? Und: Erzählt ihr heute euren Kindern noch Geschichten? Wenn nicht – was hindert euch daran? Das ist keine Kritik, sondern ein Impuls, genauer hinzuschauen. Denn diese Momente – das gemeinsame Erzählen, das Lachen über erfundene Figuren, das Staunen über überraschende Wendungen – stärken nicht nur die Bindung, sondern auch die sprachliche und emotionale Entwicklung.

Denn auch Sprache verändert sich durch die neuen Medien. Was bleibt, wenn Emojis, kurze Nachrichten und flüchtige Reaktionen das Erzählen ersetzen? Wir verlieren nicht nur Ausdrucksvielfalt, sondern auch Tiefe.

Mein Anliegen ist nicht, digitale Spiele oder Medien grundsätzlich zu verteufeln. Sie gehören zu unserer Welt – das ist Realität. Aber wir brauchen Räume, in denen Fantasie entstehen darf, Geschichten wachsen können und Kinder sich in andere Welten hineinfühlen – nicht nur, weil sie darin Punkte sammeln, sondern weil sie innerlich berührt werden.

Was denkst du?